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Portrait von Gert Reinholm mit Stirnband und androgynem Makeup.
Portrait von Gert Reinholm
Gert Reinholm zum 100sten Geburtstag
Tänzer - Ballettdirektor - Mentor - Lehrer - Ermöglicher

Eine Ehrung von Christiane Theobald

Gert Reinholm wäre am 20. Dezember 2023 einhundert Jahre alt geworden.

Was veranlasst uns, diese außergewöhnliche Persönlichkeit der Ballett- und Tanzwelt in den Fokus zu rücken und an ihn zu erinnern? Verbundenheit, Inspiration, Respekt und Wertschätzung, aber auch Geschichtsbewahrung und Bedeutung der Lebensleistung Gert Reinholms für den Tanz in Berlin begründen diese Reflexion.

Der 100. Geburtstag ist Anlass, das Leben dieses charismatischen Mannes zu würdigen, der nicht nur als Tänzer, sondern auch als langjähriger Ballettdirektor der Deutschen Oper Berlin auf der Bühne und hinter den Kulissen, die Welt des Tanzes in Berlin maßgeblich geprägt hat. 

Beginnen aber möchte ich mit seinem Vermächtnis. 

Er war eine Erscheinung: wo er hinkam, trat er wie auf eine Bühne. Eine beeindruckende Persönlichkeit, die man nicht vergessen konnte. Schillernd und gleichzeitig auch scheu. Gestik und Sprache zogen den Zuhörenden in seinen Bann.

Er war auch Dozent, Lehrer an der Tanzakademie Berlin, wo er und Tatjana Gsovsky Generationen von jungen Menschen zu klassischen Bühnentänzer*innen ausgebildet haben. Gert Reinholm war es wichtig, dass die Ausbildung zur Bühnenreife, nicht nur die Virtuosität zur Perfektion führte, sondern auch, dass das Wissen um die Entwicklung des Balletts in Geschichte und Kontext vermittelt wurde. Ihm war wichtig, dass die Bedeutung dieser vergänglichen Kunstform durchdrungen und verstanden wurde. 

Sein Engagement für die Tanzkunst ging sogar soweit, dass es über seinen Tod hinaus wirksam war.

Tanz ist KLASSE! e.V., das Education Programm des Staatsballetts Berlin, hätte es ohne Gert Reinholm nicht gegeben. 

Der ehemalige Danseur Noble, der Protagonist der Gsovsky-Ballette und langjährige Ballettdirektor des Balletts der Deutschen Oper Berlin, war ein humanitärer Geist, ein engagierter Philanthrop; er unterstützte nicht nur bedürftige Künstler*innen, sondern auch zahlreiche wohltätige Organisationen. 

Wie großzügig Gert Reinholm war, wurde spätestens deutlich, als er sein Erbe dem Verein „Berliner helfen e.V.“ vermachte, mit der Maßgabe, dieses Erbe für Jugendliche und Kinder einzusetzen, die sonst keinen Zugang zu unserer Kunstform Tanz hätten. So gründete ich den Verein Tanz ist KLASSE! e.V. , der bis heute als Education Programm des Staatsballetts Berlin seit seiner Gründung 2007 (nach dem Tod Gert Reinholms am 13.12.2005) bereits mehr als 55.000 Kinder und Jugendliche erreicht hat. 

Gert Reinholm hat die Welt des Tanzes bereichert, als Tänzer und Darsteller, als Ballettdirektor und als Lehrer, aber auch als Mentor. 

Er hat eine beeindruckende Sammlung von Werken, Uraufführungen wie auch Repertoiretiteln nach Berlin gebracht und seinem Ensemble, das Ballett der Deutschen Oper Berlin, mit einer künstlerischen Vielfalt ausgestattet, die ihresgleichen suchte und sucht. 

Nach einer glanzvollen Karriere auf der Bühne - seine Auftritte auf den Bühnen der Welt mit dem Berlin Ballett fesselten das Publikum - hat er Jahrzehnte lang die Geschicke des Balletts der Deutschen Oper Berlin als Ballettdirektor geleitet. Sein Engagement für die Förderung des klassischen und des modernen Tanzes hat sich in einem vielseitigen Repertoire gezeigt wie auch in der Ausbildung.

Gert Reinholm war ein Tänzer, der das Nachkriegs-Berlin verkörperte. Fotos mit Tanzposen in Ruinen zeugen davon. Er war die Muse der Choreographin Tatjana Gsovsy und hat das Publikum dieser Zeit als Tänzer begeistert. Sein Name wird immer in Zusammenhang mit dem ihren betrachtet: Beide liegen Seite an Seite auf dem Waldfriedhof in Zehlendorf begraben. Die symbiotische, künstlerische und die familiäre Lebensfreundschaft der Choreographin und ihrem Protagonisten, hat so auch nach dem Tod noch einen Ausdruck gefunden.

Seine große Bedeutung bezieht sich auf das Wirken als Ballettdirektor des Balletts der Deutschen Oper Berlin. Über Jahrzehnte hat er das Ensemble auf der internationalen Landkarte sichtbar gemacht. Einerseits durch seine kluge Ensemblepolitik. Er hatte ein Gespür für tänzerische Juwelen und verstand es, diese an Berlin zu binden, hier wäre neben Eva Evdokimova eine lange Liste von herausragenden Tänzer*innen zu nennen. 

Gert Reinholms Repertoirepolitik aber suchte ihresgleichen. Er hat ein unfassbar diverses Repertoire in Berlin gezeigt, das von Anna Sokolows Rooms oder Birgit Cullbergs Frl Julie bis zu Maurice Béjarts Ring um den Ring reichte. Er hat zahlreiche, unterschiedlichste Choreographen nach Berlin geholt und Uraufführungen ermöglicht. Roland Petit war einer der Choreographen, die den Blauen Engel mit Natalia Makarowa, Les Intermittences du Coeur in Berlin zur Uraufführung brachte, eingebettet in ein umfangreiches Repertoire weiterer Werke des Petit`schen Oeuvres.

Gert Reinholm hatte die Panows nach Berlin geholt, daraus ergab sich eine fruchtbare choreographische Phase mit der Uraufführung von Dostojewskys Der Idiot und Tolstois Krieg und Frieden in Berlin. Gert Reinholm war zeitlebens John Neumeier eng verbunden, dessen Stück Einhorn entstand als Kreation für Berlin und Tristan wie auch die Bach-Suite-3 befanden sich im Repertoire des Balletts der Deutschen Oper Berlin. Seiner guten Verbindung zu MacMillan entsprang Anastasia, MacMillan war sogar zeitweise Chefchoreograph und Reinholm Co-Direktor des Balletts. 

Eine beständig gepflegte Verbindung mit dem Balanchine-Trust sicherte immer eine oder mehrere Balanchine-Choreographien im Repertoire und die enge Freundschaft mit Rudolf Nurejew bescherte Berlin nicht nur Auftritte des Tänzers Nurejew, sondern auch dessen große klassische Ballette und Tourneen. 

Lucinda Childs kreierte mit Achim Freyer den Lichtknall (Musik Grosskopf), Tutuguri von Wolfgang Rhim in der Choreographie von Moses Pendleton war ebenso ein Grund über Berlin in der Welt des Tanzes zu sprechen, wie auch die erste Choreographie von William Forsythe mit dem Ballettensemble der Deutschen Oper Berlin: Die Nacht aus Blei.

Choreographen wie Araiz, Bruce, Gadd, Joos, Limón, Taras, de Layress, Spoerli, Kylian und immer wieder van Manen trugen zu größter Diversität des Repertoires bei.

Das Meisterstück, die Krönung des Schaffens von Gert Reinholm aber war die Uraufführung von Maurice Béjarts Ring um den Ring. Reinholm war davon überzeugt, dass das Ring-Ballett in Berlin uraufgeführt werden müsse und er hat es möglich gemacht. Es war ein regelrechter Coup! Den eigenen Premierentermin hat Reinholm dem Béjart Ballet aus Lausanne überlassen, welches die Uraufführung des Ring um den Ring getanzt hat und sukzessive von Tänzer*innen des Balletts der Deutschen Oper ersetzt wurde. Gleichzeitig hatte Reinholm so verhandelt, dass er im Gegenzug von Béjart Feuervogel und Sacre für das eigene Ensemble, dem Ballett der Deutschen Oper erhalten hat.

Gert Reinholm war ein ungemein großzügiger Mensch, er hat sein Wissen geteilt, geholfen und unterstützt , wo er konnte. Er hat die Künstler*innen in hohem Maße gewertschätzt und sie zuvorkommend behandelt.

Und doch gab es auch sehr schwere Zeiten in seiner Direktorenzeit. Veranstaltungen in der Akademie der Künste, in denen Gerald Bohner im Zentrum stand, haben ihm schwer zugesetzt und ein Trauma hinterlassen. Die Presse war zwiegespalten im Hinblick auf die Person Gert Reinholm, wohl auch, weil er schon so lange als Ballettdirektor die Geschicke bestimmt hat. 

Ich selber hatte das Glück, dass Gert Reinholm nicht nur mein erster Ballettdirektor war, sondern auch zu meinem Mentor wurde. Er war mir bis zu seinem Tod im Jahre 2005 ein enger Vertrauter und wichtigster Ratgeber bei schwierigen Fragestellungen, besonders als es um die Möglichkeit ging, die Ballette zu einem Staatsballett Berlin zu vereinigen und künstlerisch und wirtschaftlich innerhalb der Stiftung Oper in Berlin eigenständig zu machen. Er hat mir Mut gemacht und die Unabdingbarkeit, dass der Tanz nicht das fünfte Rad am Wagen sein darf, immer wieder vor Augen geführt. 

Geboren in Chemnitz, als Tänzer an der Deutschen Staatsoper Berlin, am Teatro Colon in Buenos Aires engagiert, dann Protagonist des Berlin Balletts und schließlich als langjähriger Ballettdirektor der Deutschen Oper Berlin hat Gert Reinholm nach dem Mauerfall sogleich den Kontakt mit dem Ballett der Staatsoper Unter den Linden gesucht und einen Austausch von Vorstellungen auf den Weg gebracht. Ebenso hatte er noch vor dem Mauerfall den Chefchoreographen der Komischen Oper Berlin Tom Schilling mit einer Choreographie beauftragt (UA Orpheusstationen) wie auch Tänzer der Komischen Oper für den Grünen Tisch als Gäste auf der Bühne der Deutschen Oper verpflichtet.

Gert Reinholm hatte einen Instinkt für das Momentum und er trug, wie Klaus Geitel es einmal nannte, die Gert-Reinholm-Collection des Tanzes zusammen. 

Gert Reinholm starb am 15.12.2005, versehen mit zahlreichen Ehrungen wie dem Berliner Kunstpreis, dem Bundesverdienstkreuz am Bande. Er ist Mitglied der Akademie der Künste Berlin und Ehrenmitglied der Deutschen Oper Berlin. 

In Erinnerung wird er bleiben aufgrund seines Charismas als Mensch, Tänzer, Lehrer, Direktor und Mentor und zugleich als engagierter Philanthrop mit humanitärem Geist.

Christiane Theobald

Die Autorin war bis zum Sommer 2023 Intendantin des Staatsballetts Berlin und ist Geschäftsführerin von Tanz ist KLASSE! e.V.