
Inszenierungen
in Berlin
Don Quixote (Staatsoper Unter den Linden 1993, zusammen mit José de Udaeta)
Schwanensee (Staatsoper Unter den Linden 1997)
Der Nussknacker (Staatsoper Unter den Linden 1999)
Verdiana (Staatsoper Unter den Linden 1999)
Giselle (Staatsoper Unter den Linden 2000)
Romeo und Julia (Staatsoper Unter den Linden 2002)
Das flammende Herz (Staatsballett Berlin 2009)
2025
*30. Juli 1945 in Paris
†6. Oktober 2025 in Falaise, Normandie
Patrice Bart, französischer Choreograph, Ballettmeister, Tänzer und Connoisseur des Balletts hat mit insgesamt sieben Choreographien deutliche Spuren in Berlin hinterlassen. Mit jeweils mehr als 200 Aufführungen sind seine Fassungen von Giselle und Schwanensee bis heute im Repertoire und wecken als wichtige Säulen des Berliner Spielplans alljährlich die Begeisterung des Publikums.
Fast jede Spielzeit ist er nach Berlin gekommen, um neue Besetzungen für die Wiederaufnahmen seiner Inszenierungen vorzubereiten, viele Generationen von Tänzer*innen in Berlin – des Staatsballetts Berlin und zuvor der Staatsoper Unter den Linden – haben mit ihm persönlich an seinen Werken gearbeitet, für einige von ihnen hat er die Rollen neu kreiert und psychologisch ausgedeutet.
Kompromisslos und leidenschaftlich war er, wenn es darum ging, die Kunst des klassischen Tanzes in jedem Moment und jeder Geste zur Perfektion zu bringen, die ganze Raffinesse des französischen Ballett-Stils zu entfalten. Er war nicht aufzuhalten, wenn er noch bis vor einigen Jahren mit seiner unbändigen Energie die anspruchsvollsten Schrittkombinationen demonstrierte, nicht selten voller Ironie, denn er wusste, was er von den Tänzer*innen verlangte. Seine Inszenierungen schließlich wirkten so energetisch wie sein Arbeitsstil, überbordend in der choreographischen Aktion, die rund um die solistischen Tänzerpersönlichkeiten angelegt war und die er umso mehr zum Strahlen brachte.
Patrice Bart gehört zu den großen Persönlichkeiten der Ballettwelt, und er wird fehlen. Nicht nur beim Staatsballett Berlin, in das er hineinwirkte mit seinen künstlerischen Entscheidungen und seinem Instinkt für die Bühne, sondern auch in der weiten internationalen Welt dieser Kunstform, die Erneuerung braucht, um ihre Tradition zu bewahren. Ohne viel darüber zu sprechen, hat er dem klassischen Tanz zu einer Vitalität im 21. Jahrhundert verholfen, die sich nur im Tun vermittelt.
Patrice Bart liebte das Ballett. Das Staatsballett Berlin trauert um ihn. Es ist eine große Ehre, seine Berliner Fassungen aufführen zu dürfen, und mit jeder Probe und jeder Vorstellung ruft das Staatsballett Berlin sein Andenken ins Gedächtnis.
«Cherche la lumiere!»
«Schau immer, wo das Licht ist!» Dr. Christiane Theobald anlässlich des 80. Geburtstags
Berliner Morgenpost, 26.07.2025 mit freundlicher Erlaubnis
Choreograph Patrice Bart hat das Staatsballett Berlin mitgeprägt. Sein Name bedeutet für viele eine Ära des Balletts voller Eleganz, dramatischer Tiefe und der präzisen Klarheit französischer Tanzkunst. Für mich persönlich ist Patrice Bart weit mehr – ein Wegbegleiter, ein Inspirator, ein detailversessener nie zufriedener Tanzmeister, der unserer Kunstform, die uns beide seit Jahrzehnten verbindet, immer wieder einen neuen Schliff verleiht, so dass die alten ehrwürdigen Titel aufs Neue glänzen, brillant bleiben und uns etwas bedeuten, weil Bart sie «heutig» liest. Am 30. Juli feiert der große französische Choreograph Patrice Bart seinen 80. Geburtstag. «Schau, wo das Licht ist», gemeint ist der Verfolger-Scheinwerfer auf der Bühne, der den Protagonisten auf der Szene ins Licht setzt. Da soll sich der Tänzer, die Tänzerin hinbewegen. Diesen Aufruf habe ich aus dem Munde von Patrice Bart unzählige Male gehört, so dass dieses Bild für mich ganz und gar mit ihm verbunden ist. Ebenso sein Aggregatzustand: agitato! – ganz viel Energie, ganz viel Temperament, hoch aktiv und schnell! Berlin hat dem französischen Choreographen Patrice Bart sehr viel zu verdanken, im Grunde genommen das gesamte klassische Kernrepertoire: Schwanensee (1997), Der Nussknacker (1999), Giselle (1996), Verdiana (1997), Romeo und Julia (2002), Das flammende Herz (2009) und Don Quixote (1993), mit dem in Berlin alles begann. Für München hat er eine Bayadère (1997), für Oslo/Helsinki Tschaikowsky (2005), für Warschau Chopin (2010) entworfen, und die Scala di Milano hatte die Premiere seiner Giselle.
In die traditionsreiche Ballettschule der Pariser Oper war Patrice Bart 1957 eingetreten. Die Opéra Garnier war sein Mutterhaus, wo er zunächst 1959 Mitglied des Corps de ballet wurde, anschließend «Coryphée», dann «Erster Solotänzer» und 1972 schließlich «Étoile». Als solcher gastierte er regelmäßig beim London Festival Ballet, dem heutigen English National Ballet. In London ist er Rudolph Nurejew, der beim Royal Ballet London tanzte, begegnet und fortan verband die beiden temperamentvollen Tänzer eine enge Freundschaft. Als Nurejew Ballettdirektor (1983) an der Opéra de Paris wurde, tanzte Patrice Bart noch, 1986 wechselte er die Seite und wurde Ballettmeister. Verantwortung als stellvertretender Ballettdirektor übernahm Patrice Bart von 1990 bis 2011 und kreiert in dieser Zeit eine Coppélia (1996), sowie La petite danseuse de Degas (2003) für das Ballett der Pariser Oper.
Die Königin in Schwanensee sollte keine Schreitrolle mehr sein
Ich hatte das große Glück, über viele Jahre mit ihm eng zusammenzuarbeiten – in Berlin, an der Staatsoper Unter den Linden, was sich mit dem Staatsballett Berlin fortsetzte, und später in Zagreb. Begonnen hat unsere enge schöpferische Kollaboration neben der administrativen, als er mich gebeten hat, Schwanensee psychologisch zu deuten und ein dementsprechendes Ballett-Libretto zu schreiben. Zwei Bedingungen stellte er: Die Königin solle keine Schreitrolle mehr sein, sondern auf Spitze tanzen und die Figur des Benno von Sommerstein aus der Urfassung solle wieder eine Rolle spielen. (Wie das gelöst ist, kann man noch heute in «Schwanensee», vom Staatsballett Berlin getanzt, sehen.) In diesen gemeinsamen Schöpfungsprozessen sind wir uns so nahe gekommen, dass wir bis heute befreundet sind. Mehr als das: Patrice Bart war in der Zeit, in der Michaël Denard als Ballettdirektor nach drei Jahren (1996) Berlin wieder verlassen hatte, mein Kompass, meine Stütze, mein Berater und Lehrer, denn ich blieb allein zurück, auch wenn der Opern-Intendant die Verantwortung hatte. Patrice konnte ich alles fragen, um Hilfe bitten, wenn wir in Berlin keine Ersten Solotänzer hatten und er uns von der Pariser Oper aus Laurent Hilaire, José Carlos Martinez, Manuel Legris und viele mehr entsendete. Patrice Bart hat mir die französische Bildung unserer Kunstform nahgebracht. Neben der Neu-Interpretation des bekannten klassischen Ballettrepertoires, wie oben bereits aufgeführt, kreiert Patrice Bart Ballett-Neuschöpfungen, zumeist über eine historische Person, die über komplexe Gefühlswelten verfügt und interessante Lebensläufe aufweist. So bat er mich, ein Ballett-Libretto über den englischen Schriftsteller Percy Shelley zu schreiben, das 2009 als Das flammende Herz (Musik von Felix Mendelssohn Bartholdy) an der Staatsoper Unter den Linden mit Vladimir Malakhov als Shelley zur Uraufführung kam. Die zahlreichen Frauenfiguren, die in Shelleys Leben eine Rolle spielten, waren hochrangig mit den zahlreichen Ersten Solotänzerinnen des Staatsballetts Berlin besetzt, so dass alle jeweils eine sehr interessante Partie zu tanzen hatten.
Unsere Zusammenarbeit am Ballett Elisabeth von Österreich, Sisi (Musik von Bedřich Smetana), das sich mit Leben und Mythos der österreichischen Kaiserin Elisabeth beschäftigt, war eine der intensivsten Erfahrungen meiner Laufbahn, eine Kreation für das kroatische Nationaltheater Zagreb (2018). Bart begegnet historischen Stoffen nicht mit musealer Ehrfurcht, sondern ließ mir wieder freie Hand. Unser Ansatz war eine rebellische Elisabeth, wir wollten ihre dunkle Seite auf der Bühne zeigen, und Patrice choreographierte diese Figur wie auch alle weiteren Personen der Handlung mit einem dramatischen Gespür für Zwischenräume, Brüche, Sehnsüchte. Die psychologische Tiefe seiner Figuren – insbesondere seiner Frauenfiguren, aber ebenso seiner männlichen Protagonisten – gilt vielen bis heute als einzigartig.
In Berlin war er immer auch ein leidenschaftlicher Debattierer
Was viele nicht vermuten: Trotz seiner strengen Eleganz und seiner klaren, technisch hochanspruchsvollen choreographischen Sprache ist Patrice ein zutiefst emotionaler Erzähler. Er versteht es, ein historisches Sujet wie Schwanensee, Der Nussknacker oder Romeo und Julia neu zu befragen, ohne die Tradition zu verraten. Dabei geht es ihm nie um bloße Oberfläche oder spektakuläre Effekt-Choreographie, sondern immer um das innere Drama, das im und mit dem Körper ausgedrückt wird. Seine Bewegungssprache ist ungemein schnell, zuweilen sogar gegen den Körper, das heißt, man muss superschnell die Richtung wechseln. Seine sprühende, nie enden wollende Energie wohnt seinen Choreographien inne. Es sind nicht nur die Pas de deux‘ und die Solo- Variationen extrem schwer zu tanzen, sondern auch die Choreographien für das Corps de ballet gelten als mit das schwerste, was es gibt. An ihnen kann man ablesen, in welchem Zustand sich ein Ensemble befindet. Ein Beispiel dafür ist der Walzer in Schwanensee.
Als ehemaliger Étoile und Maître de ballet an der Pariser Oper trägt Bart das klassische französische Ballett in sich wie kaum ein anderer. Sein Qualitätsbewusstsein und auch seine Erwartungen hat er geteilt und weitergegeben. In Berlin war er nicht nur Gastchoreograph, sondern auch ein hoch motivierter Coach und ein leidenschaftlicher Debattierer. Spannung lag immer in der Luft, besonders bei Bühnenproben mit Orchester, da wurde gern schon mal über das Orchester hinweg auf die Bühne gerufen. Im Verlauf der Zeit wandelten sich die Kommunikationsstrukturen in den Ballettensembles hin zum Dialog mit den Tänzern und Tänzerinnen. Das verlangte auch von ihm, sich mit diesen strukturellen Veränderungen auseinanderzusetzen und gewohnte Usancen persönlich zu hinterfragen. Das unglaubliche Temperament des ehemaligen Charaktertänzers im Range eines Étoile, der immer «agitato» ist, macht es da nicht einfach.
Viele Gespräche über Musik, Geschichte, Körpersprache
Persönlich erinnere ich mich sehr gerne an die unzähligen Produktionsbesprechungen zu dem jeweiligen Ballett, an Gespräche über Musik, Geschichte, Körpersprache, an seine Präzision und seine choreographische Sprache und seinen unglaublichen Humor. Es wird so viel gelacht! Eine illustre Gesellschaft, das Who is Who der Ballettwelt, kam 2011 in der Opéra Garnier zusammen, als Patrice Bart in den Ruhestand verabschiedet wurde. Das mit den höchsten Auszeichnungen, dem «Ordre des arts et des lettres», dem «Ordre national du mérite», dem «Chevalier de la Légion d‘honneur» ausgezeichnete Urgestein der Pariser Oper verabschiedete sich nach 54 Jahren.
Er, der mit Rudolf Nurejew sehr eng befreundet war und dessen Einfluss auch nicht leugnet, ohne den er nie, wie er selber in einem Interview sagte, Choreograph geworden wäre, hat mit dem Solo des Prinzen Siegfried in Schwanensee eine Hommage an Rudolf Nurejew geschaffen. Patrice Bart gehört zu den letzten großen Vertretern einer Generation, die das klassische Ballett nicht als reines Repertoire versteht, sondern als lebendige Erzählform. Dabei sind seine Handlungsballette (abstrakte Choreographien hat er nicht gemacht) kein Museum, sondern Theater im besten Sinne: lebendig, gefährlich, sinnlich. Seine größte Angst ist die Leere auf der Bühne beziehungsweise in der Choreographie, und so kommt es, dass man bei wiederholtem Besuch einer Vorstellung immer wieder Neues entdeckt, weil die Choreographie so dicht ist und Material für drei Ballette bereit hält. Patrice Bart hat ein Gespür für ein Bühnenbild, das nicht überladen ist, sachlich und funktional und damit auch Platz für den Tanz lässt, der das auch braucht.
in der Probe [1] Schwanensee auf der Bühne der Staatsoper Unter den Linden mit Torsten Händler 1997 (Foto: Gert Weigelt) // [2] Verdiana im Ballettsaal der Staatsoper 1999 (Foto: Gert Weigelt) // [3] Verdiana im Ballettsaal der Staatsoper mit Jana Timptner, Maria-Helena Buckley, Barbara Schroeder und Marie-Soizic Cabié 1999 (Foto: Gert Weigelt) // [4] Verdiana mit Nadja Saidakova und Jens Weber 1999 (Foto: Gert Weigelt) // [5] Schwanensee im Ballettsaal mit Bettina Thiel 1997 (Foto: Gert: Weigelt) // [6] Don Quixote im Ballettsaal 1993 (Foto: Archiv Staatsoper) // [7] Don Quixote im Ballettsaal der Staatsoper mit Oliver Matz 1993 (Foto: Archiv Staatsoper) // [8] Dornröschen im Ballettsaal der Staatsoper zur Einstudierung mit Rudolf Nurejew und Patricia Ruanne 1992 (Foto: Archiv Staatsoper)
2023
«Ma obsession première» Link zum Video
Interview im Rahmen der Proben für die Wiederaufnahme La Bayadère beim Bayerischen Staatsballett in München. Die Fragen stellt Serge Honegger. Es werden deutsche Untertitel ausgegeben, sobald die Einstellung ausgewählt ist. Mit freundlicher Erlaubnis des Bayerischen Staatsballetts München.
2020
Schwanensee-Probe im Ballettsaal Link zum Video
Patrice Bart korrigiert das erste Entrée von Odette und Prinz Siegfried aus dem ersten Akt Schwanensee mit Yolanda Correa und Alejandro Virelles. Die beiden zeigen zuerst komplett die Choreographie, sodann geht Patrice Bart die Korrekturen mit ihnen durch.
2014
Giselle-Probe im Ballettsaal Patrice Bart erarbeitet Giselle als große Wiederaufnahme für die Bühne der Staatsoper im Schiller Theater mit Polina Semionova und Marian Walter sowie Ballettmeisterin Christine Camillo (Sarah Mestrovic, Weronika Frodyma, Ilenia Montagnoli und Alexander Korn).
2001
«Klassischer Tanz verträgt kein Mittelmaß»
Marc Haegeman im Gespräch mit Patrice Bart im Frühjahr 2001
Paris, Opéra Garnier – Patrice Bart ist einer der Veteranen des Balletts der Pariser Oper. Seine Karriere begann vor fast 45 Jahren als Student an der Ballettschule der Pariser Oper. 17 Jahre lang war er «Étoile» des Balletts der Pariser Oper. Heute, als «Maître de ballet, associé à la direction de la danse», ist er eine der Schlüsselfiguren dieser Compagnie. Darüber hinaus ist Patrice Bart in den vergangenen zehn Jahren als Choreograph aktiv geworden, er studierte seine Versionen der großen Klassiker an der Berliner Staatsoper, beim Ballett der Pariser Oper, an der Bayerischen Staatsoper München oder an der Mailänder Scala ein.
Sein Tanzstil als «Étoile» wurde einmal als temperamentvoll beschrieben. Und das ist wahrscheinlich auch das erste, was einem einfällt, wenn man den Ballettmeister heute trifft. Offenbar immer schwarz gekleidet, ist Patrice Bart ein kleiner, aber extrem lebhafter, energiegeladener Mann, der sich mit tänzerischer Anmut bewegt. Voller Stolz und mit Leidenschaft spricht er über seine Kunst, die Begegnung mit Rudolf Nurejew, die Wendepunkte seiner Karriere und seine Verantwortlichkeiten an der Pariser Oper.
Marc Haegeman: Patrice Bart, können Sie bitte kurz beschreiben, worin ihre Aufgaben als «Maitre de ballet, associé à la direction de la danse» bestehen?
Patrice Bart: Als Ballettmeister stehe ich in direktem Kontakt mit der Compagnie, um die Vorstellungen vorzubereiten und Neuproduktionen einzustudieren. Ich habe mit allem zu tun, was in den Ballettsälen passiert, eigentlich mit allem, was die Funktionsfähigkeit der Compagnie betrifft. Mit dem Ballettdirektor verbunden zu sein, bedeutet, dass ich eng mit Brigitte Lefèvre, der Ballettdirektorin, zusammenarbeite, bei der Spielplangestaltung, den Besetzungen der «Étoiles» und Solisten, sowie des Corps de ballet.
MH Können wir Sie als den Hüter des klassischen Tanzes an der Pariser Oper bezeichnen?
PB Ich glaube ja, das kann man sagen, jedenfalls in dem Sinne, dass ich für alle wichtigen Produktionen von Nurejew verantwortlich bin. Ich muss natürlich betonen, dass ich nicht allein daran arbeite, das tun noch viele andere Leute, aber es ist wahr, dass die großen Klassiker, die diese Compagnie tanzt, unter meine Verantwortung fallen.
MH Was unterscheidet das Ballett der Pariser Oper von anderen großen Compagnien?
PB Das Hauptmerkmal des Balletts der Pariser Oper ist für mich die direkte Verbindung zur Akademie für Musik und Tanz, die Ludwig XIV. gegründet hat. Das ist einzigartig auf der Welt. Es gibt keine andere Compagnie mit einem derart reichhaltigen Hintergrund, mit einer derart langen Geschichte. Das Ballett der Pariser Oper definiert sich hauptsächlich als Traditions-Compagnie. Und das genau ist es auch, was wir zu erhalten suchen: diese unverwechselbare Tradition mit ihren vielen Aspekten wie zum Beispiel der Hierarchie innerhalb der Compagnie, wie sie strukturiert ist usw. Zugleich sind auch viele Werke für die Compagnie geschaffen worden, um dies lebendig zu erhalten. Aber dieser historische Aspekt, der der Compagnie einen festen Platz in der Geschichte Frankreichs einräumt, ist extrem wichtig und einzigartig.
MH Wie würden Sie den Stil der französischen Schule beschreiben?
PB Ich glaube, der französische Stil ist fest mit dem französischen Temperament verbunden. Französische Künstler sind offen, flexibel und ausdrucksvoll. Die Schule geht auch auf Ludwig XIV. zurück und ist ein Teil der Tradition. Im Laufe der Jahrhunderte hat es Einflüsse von außen gegeben, aber man kann immernoch sagen, dass die französische Schule die Essenz des klassischen Tanzes ist. Wie Sie wissen, ist die Ballett-Terminologie französisch, egal wohin Sie kommen.
Unsere «École de Danse de l’Opéra de Paris» ist von grundlegender Wichtigkeit für den Erhalt der Identität dieses Stils. Die Kinder erhalten von Anfang an ein Zeichen, ein «Markenzeichen», wenn man so will: Übungen, Schritte, alles wird in einer besonderen Art und Weise ausgeführt. Und dieses Zeichen tragen sie ihre ganze Laufbahn hindurch.
MH Wie wird diese Tradition weitergegeben?
PB Es gibt Lehrpläne, aber es gibt auch noch etwas wie ein Rotationsprinzip. Tänzer – «Étoiles» oder Solist*innen – die sich von der Bühne zurückgezogen haben, setzen ihre Arbeit als Lehrer an der Ballettschule fort, es gibt eine automatische Weitergabe von Tänzer zu Schüler. Es ist in der Tat ein geschlossener Kreislauf. Andererseits gibt es im Hinblick auf die großen Klassiker eine deutliche Entwicklung. Selbst wenn man sehr traditionell bleiben will, ist es wichtig, sich nicht völlig zu verschließen. Zum Beispiel erneuerte Rudolf Nurejew während seiner Zeit hier all die großen Klassiker, die wir heute noch tanzen. Es gibt gewisse äußere Einflüsse, es kommt darauf an, die besten von ihnen aufzunehmen und in die eigene Welt zu integrieren. Es ist nötig, einen offenen Blick zu haben, auf dem Laufenden zu bleiben, was im Rest der Welt vor sich geht. Neue, zeitgenössische Kreationen sind essentiell für die lebendige Erhaltung der klassischen Tradition.
MH Droht die Gefahr, dass die Compagnien wegen zu vieler äußerer Einflüsse ihre Identität verlieren? Zum Beispiel sind heutzutage Tänzer, obwohl sie bei einer bestimmten Compagnie beschäftigt sind, überall auf der Welt zu sehen.
PB Das glaube ich nicht. Ich war «Étoile» hier, und im Laufe meiner Karriere tanzte ich auch an vielen verschiedenen Orten, und nie fürchtete ich, meine Identität zu verlieren. Man behält, was man hat und bereichert sich höchstens um ein paar zusätzliche Farben, um sich selbst zu entwickeln. Irgendwie ist es aber wichtig, sich seine Ursprünge zu bewahren und äußere Einflüsse nicht zu dominant werden zu lassen.
MH Wie begann ihre Laufbahn als Tänzer?
PB Meine Eltern liebten Theater, Oper und Ballett und ich wurde in die Richtung gelenkt. Ich spielte ein wenig Theater, ich spielte Klavier und begann mit zehn zu tanzen. Die größte Affinität hatte ich zum Ballett, so wählte ich natürlich diesen Weg. Die einzige Bedingung war, in die «École de Danse» aufgenommen zu werden, weil mein Vater wollte, dass ich in ein geordnetes System eintrat. So begann alles.
MH An welche Momente in Ihrer Karriere erinnern Sie sich?
PB Der Eintritt in die Schule ist bereits ein wichtiger Schritt, denn man wird einer medizinischen Untersuchung unterzogen, um die physische Eignung zu prüfen. Eine kleine Anekdote: als ich mich das erste Mal vorstellte, wurde ich abgelehnt, weil man Plattfüße festgestellt hatte, beim zweiten Mal allerdings wurde ich aufgenommen, dann werde ich sie wohl nicht mehr gehabt haben, oder es hat eine Empfehlung gegeben, die mir geholfen hat, (so etwas gab es seinerzeit, das ist aber heute nicht mehr möglich, das kann ich Ihnen versichern.) Einmal in die Schule aufgenommen, ist dein Ziel, ins Corps de ballet aufgenommen zu werden. Es gibt jedes Jahr Versetzungs-Prüfungen in der Schule, und damals war es noch gestattet, der Compagnie im Alter von 14 Jahren beizutreten (heute muss man 16 sein). Ich war also zwei Jahre auf der Ballettschule, übersprang ein paar Klassen und wurde mit 14½ Jahren Mitglied im Corps de ballet, als «Second Quadrille» (Damals war die Hierarchie der Compagnie noch viel ausgeklügelter und auf der untersten Stufe standen die «Seconds» und «Premiers Quadrilles»). Obwohl ich bereits Mitglied der Compagnie war, musste ich mich weiterhin der Jahresabschlussprüfungen unterziehen, solange bis ich zum «Premier Danseur» aufgestiegen war. 1969 nahm ich am 1. Internationalen Ballettwettbewerb in Moskau teil und gewann gemeinsam mit Michail Baryshnikov die Goldmedaille. Als ich von dort zurückkam, erhielt ich meine erste Hauptrolle in Schwanensee, und wurde zum «Étoile» ernannt.
MH Welche waren Ihre liebsten Rollen?
PB Ich habe in so vielen verschiedenen Balletten getanzt, aber mein Lieblingsballett ist Giselle. Die Rolle des Albrecht ist so reich und erlaubt es, sich ihr von vielerlei Seiten zu nähern. Mein Repertoire war breit gefächert: die Klassiker des 19. Jahrhunderts, aber auch Werke wie Der verlorene Sohn, Petruschka, Rubies. Ich war auch bei Kreationen von Roland Petit, Maurice Béjart dabei, hier in der Oper, ich arbeitete mit Kenneth MacMillan, usw.
MH Irgendwann wurden Sie dann Ballettmeister. Ist das ein logischer Schritt für einen Tänzer?
PB Es ist ein logischer Schritt, aber eigentlich wird er nur sehr selten getan. Ich war Ende dreißig, Rudolf Nurejew war Direktor, und ich wollte meiner Laufbahn eine neue Wendung geben, anstatt auf den Moment zu warten, an dem mein letzter Vorhang fallen würde. Darüber sprach ich mit Rudolf und ließ ihn wissen, dass ich gern probieren würde, ein paar Proben zu leiten. Er mochte die Idee (wir kannten einander gut, seit ich zehn Jahre lang beim London Festival Ballet gastierte und dort häufig in seinen Produktionen tanzte), und zu der Zeit wollte er sein Ballett Manfred für die Opéra Garnier wiedereinstudieren. Er gab mir das Video und bat mich, das zu übernehmen. Eigentlich war das eine Art Schierlingsbecher, denn auf dem Video waren nur zwei Drittel der Bühne zu sehen, aber irgendwie gefiel ihm meine Arbeit, er schlug mir dann vor, nach dem vorzeitigen Ausscheiden von Claire Motte ihr Nachfolger als Ballettmeister zu werden. So kam es, dass ich sechs Jahre lang sein Assistent war. Nachdem Rudolf die Oper verlassen hatte, wurden Eugène Polyakov und ich für ein Jahr zu Interimsdirektoren berufen, und als schließlich Patrick Dupond Direktor wurde, ernannte man mich zum «Maître de ballet associé à la direction de la danse».
MH Wie haben Sie Rudolf Nurejew in Erinnerung?
PB Ich hatte immer eine wahre Leidenschaft für Nurejew. Besonders für den Künstler, den Menschen, die Magie. Als Tänzer, denke ich, gab es viele, die wenigstens so gut waren wie er, aber als ein Künstler war er einzigartig und hat ein unauslöschliches Zeichen im Ballett des 20. Jahrhunderts gesetzt. Seine Bedeutung für das klassische Ballett, aus dem die beachtliche Entwicklung des männlichen Tanzes hervorsticht, steht völlig außer Frage. Er war ein schwieriger Mensch, sehr fordernd, auch gegen sich selbst. Entweder akzeptierte man sein System oder man tat es nicht. Es gab keine Diskussion. Ich akzeptierte es eindeutig und sah ihn als Vorbild.
Als er Direktor des des Pariser Balletts wurde, gab er dem Ensemble neue Jugend. Er baute es wieder auf. Die Compagnie war zu jener Zeit ein wenig verschlafen, und Rudolf versetzte ihr genau den Adrenalinstoß, den sie brauchte. Es war gar nicht mal ein Mangel an guten Tänzern, aber der Compagnie als ganzer fehlte das Gesicht, Rudolf hauchte ihr neues Leben ein. Das Resultat ist bis heute sichtbar.
MH Sie erwähnten bereits seine Fassungen der Klassiker. Welche Bedeutung haben seine Choreographien?
PB Man kann natürlich über seine Choreographien diskutieren, aber ich glaube, dass wir die Tatsache nicht unterschätzen dürfen, dass er den Klassikern mit seinen Neueinstudierungen neues Leben und neue Kraft gegeben hat. Er bereinigte sie, er restrukturierte sie, er straffte sie – auch wenn ich finde, dass einige von ihnen noch immer zu lang sind. Meiner Meinung nach sollte man ihn auch gar nicht als Choreographen bezeichnen, sondern vielmehr als Regisseur, als eine Art Theatergenius, als einen Künstler mit enormem Theatersinn. Seine großen Verdienste, diese Leidenschaft und dieses Gespür, mit denen er die großen Petipa-Klassiker überarbeitete, bleiben eine enorme Leistung. Ich denke, das steht außer Frage.
Wenn ich für mich selbst sprechen darf: Alles, was ich in meiner Karriere gelernt und realisiert habe, habe ich von ihm gelernt. Und wenn man sich schließlich die beeindruckende Liste der Tänzerinnen und Tänzer der Oper ansieht, die er ausgebildet hat, und was er von ihnen gelernt hat, dann ist das auch keine geringe Leistung.
MH Nachdem Sie für einige Zeit an den Produktionen anderer gearbeitet haben, begannen Sie schließlich Ihre eigene Inszenierungen und Choreographien der großen Klassiker. Wie kam es zu diesem Schritt? Und worin genau besteht Ihr Beitrag zu diesen altbekannten Balletten?
PB Das geschah eigentlich durch Zufall. Ich arbeitete mit Patricia Ruanne an Nurejews Dornröschen für die Berliner Staatsoper. Der Ballettdirektor der Oper, Martin Puttke, schätzte meine Arbeit und schlug mir vor, Don Quixote mit seiner Compagnie einzustudieren. Zuerst war ich überrascht und zugleich besorgt, weil ich so etwas noch nie gemacht hatte. Aber ich begann mit der Arbeit, und versuchte hauptsächlich herauszufinden, was an Don Quixote heute noch wertvoll und zugänglich ist. Schließlich ist es ein altes Werk, ohne viel Tiefgang, ein bisschen im Operetten-Stil etc. Was kann man belassen wie es ist, was muss überarbeitet werden, usw.? Die Figur des Don Quixote zum Beispiel ist eine komische im Ballett und hat sehr wenig mit der Figur zu tun, die Cervantes erschaffen hatte. Ich bemühte mich, etwas vom ursprünglichen Don Quixote wiederzufinden, und zugleich die Passagen zu eliminieren, die dem Ballett seine altmodische Note geben.
Ich habe viel daran gearbeitet, choreographierte einige Teile neu und bat den berühmten spanischen Kastagnetten-Tänzer José de Udaeta, die spanischen Charaktertänze wie Fandango oder Bolero einzustudieren, die in den existierenden Produktionen immer nur «nach Art von» gestaltet und tatsächlich schwach waren. Ergebnis war, dass das Ballett aufgefrischt wirkte und mit neuer Energie aufgeladen war. Diese Arbeitsweise behielt ich bei: Was gefällt mir an dem Ballett, was ist heute nicht mehr akzeptabel? Wie lässt es sich auffrischen? Darauf lag immer mein größtes Interesse.
MH Für Ihre Bayadère-Produktion mit dem Bayerischen Staatsballett rekonstruierten Sie den letzten Akt.
PB Ja, Ich begann ganz von vorn, denn nichts von der ursprünglichen Fassung hat die Zeiten überlebt. Ich arbeitete mit einer russischen Pianistin vom Kirow zusammen, Maria Babanina, sie hatte Musik aus jener Periode gefunden, und ich inszenierte im Geiste der existierenden Choreographie. Aber auch die Handlung musste gestrafft werden, ich reduzierte das Ganze auf zwei Akte mit je zwei Szenen, weil diese Ballette nicht zu lang sein dürfen. Gerade diese Ballette, in denen alle Entr’actes und Szenen intakt geblieben sind, sehe ich mir nicht gern an.
Andererseits versuche ich, den Figuren mehr psychologische Tiefe zu geben. Bei Schwanensee in Berlin zum Beispiel, maß ich der Königinmutter große Wichtigkeit bei, weil ich immer das Gefühl hatte, dass diese Figur in den meisten Inszenierungen vernachlässigt wird. Ich wollte ihr eine logische Position im Ballett zuweisen. Diese Frau, diese Mutter, (denn es gibt in der Geschichte nie einen Vater), die zu ihrem Sohn fast ein Liebesverhältnis und enormen Einfluss auf ihn hat, verdient einfach mehr Aufmerksamkeit.
MH Man bekommt das Gefühl, dass Sie nicht gerade ein Vorkämpfer so genannter «authentischer» Rekonstruktionen sind wie z. B. Petipas Dornröschen am Mariinski-Theater …
PB Diese Produktion habe ich nicht gesehen, aber ich habe viel Gutes darüber gehört. Ich glaube, dass man solche Rekonstruktionen machen kann, aber nur unter der Bedingung, dass man sie konsequent bis ans Ende führt. Meiner Meinung nach hat das Kirow alle Möglichkeiten, diese Rekonstruktion zu realisieren. Einzig das Mariinski-Theater ist in der richtigen Position, es zu versuchen. Aber wenn man diese Möglichkeiten, Notationen, Dokumente usw. nicht zur Verfügung hat, wenn man nicht nah an das Original herankommt, dann ist das etwas anderes.
Für mich ist es tatsächlich so, dass wir «das Original» auf der Bühne nicht mehr sehen können. Das ist nicht mehr möglich. Entweder präsentiert man sein Ballett als ein Museums-Stück, oder fasst es zumindest als solches auf, oder man muss adaptieren. Adaptieren: Damit meine ich, man ist Teil eines traditionellen Hauses, diese Tradition respektiere ich, und kann aus diesem Gefühl heraus die Tradition lebendig machen. Diese Tradition muss aber kontinuierlich verjüngt werden. Wir adaptieren nicht um der Adaption willen, wir überarbeiten nicht, um mit dem Werk zu spielen, sondern wir versuchen, die Werke lebendig zu erhalten und sie in diese bestimmte Richtung zu bewegen. Wenn wir ein Ballett rekonstruieren wollen, dürfen wir auch nicht vergessen, dass es immernoch von Tänzern aufgeführt werden muss, die heute ganz andere Körper haben und ganz anders trainiert sind als die damaligen Künstler der Uraufführung. Und, schlussendlich, wer kann denn überhaupt sagen, ob etwas «authentisch» ist? Selbst wenn man das gründlich studiert und man alle Dokumente zur Verfügung hat, ist immernoch eine riesige Frage zu beantworten. Ich kann mich erinnern, als ich den Wettbewerb in Moskau gewonnen hatte, wurde ich von einigen russischen Theatern (Kirow, Bolschoi, Kiew ...) eingeladen, alle behaupteten, im Besitz der Originalchoreographie zu sein, und jede war anders.
Im Grunde kann man mit den Klassikern tun, was immer man möchte. Aber wenn man die Tradition versteht und wenn man der Struktur des Ganzen und der Idee, die dahintersteht, auf die Spur gekommen ist, dann kann man verjüngen, man kann adaptieren, ohne deshalb unseriös zu sein.
MH Bestehen besondere Schwierigkeiten darin, klassische Ballette heutzutage einzustudieren? Können sich die Tänzer der Pariser Oper noch für diese Werke erwärmen?
PB Ja, denn die Tänzer, die an die «École de danse» aufgenommen werden, kommen bereits mit dem Traum, eines Tages Giselle oder Schwanensee zu tanzen. Anschließend gibt es eine gewisse Öffnung, die sie mit neuen Entwicklungen vertraut macht, während der sie mit zeitgenössischen Choreographen arbeiten. Ihr Ausgangspunkt ist aber der klassische Tanz. Wenn sie nur die Klassiker tanzen würden, dann, denke ich, wäre das zunehmend ermüdend, aber da es große Abwechslung in unserem Repertoire gibt, kommt es nicht dazu, und die Tänzer kehren mit Freude zu den Klassikern zurück.
MH Es ist also kein Problem, von Petipa auf Forsythe umzuschalten?
PB Überhaupt nicht, denn bei beiden bleiben die Tänzer auf Spitze. Und wenn die Planung intelligent ist, wir das eine das andere befruchten. Es ist nicht möglich, dass ein Tänzer am Nachmittag noch Forsythe probiert, und am gleichen Abend Schwanensee tanzt. Aber wenn dieser Tänzer zu Schwanensee zurückkehrt, nachdem er ein paar Monate zuvor Forsythe getanzt hat, dann gibt es ein ganz neues Gefühl und eine andere Annäherung. Andererseits gibt die Strenge des klassischen Tanzes Forsythe eine Art Schönheit und Glanz. Nichts gegen Forsythes Tänzer, aber ihnen fehlt die peinliche Sorgfalt des Klassischen, was den zeitgenössischen Choreographien ein ganz besonderes Aussehen verleiht. Diese Offenheit ist wirklich eine der bemerkenswertesten Eigenschaften unserer Compagnie.
Es ist ohnehin wichtig, sich einer gemischten Planung sorgfältig zu widmen. Wir hatten eine Spielzeit hier, in der waren gleichzeitig beide Giselle-Fassungen angesetzt: die traditionelle Version und die Version von Mats Ek wurden abwechselnd gezeigt. Wir wussten nicht, ob das funktionieren würde, aber es war dann eine interessante Erfahrung, denn beides befruchtete sich gegenseitig.
MH Glauben Sie noch an Rollenfächer?
PB Das wird immer weniger respektiert. Ich wäre der erste, der daran erinnert, dass wir ein richtiges Rollenstudium brauchen, um die Farbigkeit des Werks zu erhalten. Aber andererseits kann eine Besetzung «gegen den Typ» auch sehr aufschlussreich sein, und völlig neue Aspekte einer Rolle zum Vorschein bringen. Ich denke, das kann ein sehr erfolgreiches Besetzungsprinzip sein.
Ein Künstler kann eine Figur personifizieren, aber zugleich wird er seine eigene Persönlichkeit einbringen und der Rolle eine persönliche Note geben. Wenn ein Künstler vollkommen dazu in der Lage ist, dann lässt er damit, bei allem Respekt vor der Tradition und dem Werk, die Grenzen der Rollenfächer hinter sich. Ein Beispiel: Agnès Letestu debütierte vor gar nicht allzu langer Zeit als Giselle. Wenn wir den Regeln der Rollenfächer streng gefolgt wären, hätte sie die Giselle nie getanzt, denn sie ist körperlich eigentlich viel besser geeignet, die Myrtha zu tanzen. Aber ihre Interpretation brachte schließlich etwas bewegendes und sehr persönliches zum Ausdruck. Es war interessant, was sie daraus machte.
Also: tatsächlich engt es eine Compagnie ein, wenn sie zu sehr an der Einhaltung der Rollenfächer und entsprechenden Besetzungen hängt. Man verschenkt Gelegenheiten, neue Aspekte an einer Rolle zu entdecken. Natürlich muss man der Beliebigkeit Einhalt gebieten, man braucht trotzdem eine Richtlinie, an die man sich halten kann, aber sie sollte nicht zu restriktiv sein.
MH Hat klassisches Ballett im 21. Jahrhundert noch eine Zukunft?
PB Klassisches Ballett verträgt kein Mittelmaß. Es muss die beste aller Behandlungen bekommen. Darüber wird hier in Frankreich viel debattiert, wo zum Beispiel die Tatsache viel beklagt wird, dass nur das Ballett der Pariser Oper als klassische Compagnie anerkannt ist – gut, es gibt Bordeaux, Marseille, aber das ist nicht das gleiche. Ist es denn tatsächlich eine so gute Sache, dass Compagnien der «zweiten Kategorie» klassisches Ballett mittelmäßig aufführen? Ich glaube, genau das fügt dem Ballett den eigentlichen Schaden erst zu. Ich bin der Meinung, man sollte lieber ein paar große Compagnien haben, die die Hüter des Erbes dieser Ballette sind und sie bestmöglich zur Aufführung bringen. So können wir den klassischen Tanz bewahren. Wenn andererseits jeder, ganz egal wer, berechtigt ist, Hand daran anzulegen, dann ist das eine gefährliche Situation. So stehe ich jedenfalls dazu. Was ich behaupte, mag als zu hart eingeschätzt werden, aber ist es nicht besser, weniger und dies besser zu tun, als allzu oft und nur mittelmäßig? Darüber sollten wir nachdenken.
Außerdem darf man die Tatsache nicht übersehen, dass unsere klassischen Produktionen sich gut verkaufen. Man kann fragen, ob Ballett eine Zukunft hat, aber es gibt immernoch genug Belege dafür. Viele Leute mögen heutzutage klassisches Ballett sehen, die Compagnie tritt manchmal in der Opéra Garnier und der Opéra Bastille gleichzeitig auf, und beide Häuser sind ausverkauft. Jede Produktion bringen wir 15 bis 20 Mal, und es geht. Und das ist kein Einzelfall. Das ist in allen Städten so, in denen es eine wichtige Compagnie gibt.
MH Was macht einen «Étoile» aus?
PB Grundlegend sind eine gewisse Physis, Technik und künstlerische Qualitäten. Aber darüberhinaus gibt es noch gewisse außergewöhnliche Eigenschaften, kleine Dinge, die einen riesigen Unterschied machen. Das ist sehr subtil. Das mag Bühnenpräsenz sein, Aura, etwas, das schwer in Worte zu fassen ist, es mag ein Gefühl sein, das der Tänzer auslösen kann. Auf jeden Fall muss es etwas Besonderes geben. In meinem Fall zum Beispiel sagte man mir zu Anfang, ich könnte nie ein «Étoile» werden, weil ich zu klein wäre. Und das war richtig, aber selbst mit meiner kleinen Statur ist es mir gelungen, «Danseur étoile» zu werden. Es muss also etwas gegeben haben, was mein Handicap kompensierte.
Es muss etwas wirklich ganz charakteristisches sein, denn in dieser Compagnie von 154 Tänzern gibt es nur 6 weibliche und 6 männliche «Étoiles».
MH Was denken Sie über die jungen Tänzer, die, direkt von der Schule kommend, Giselle oder Odette tanzen?
PB Ja, das ist heutzutage eine Tendenz in vielen Compagnien, vor allem in Russland. Wenn sie diese Rollen tanzen, kann es nur bedeuten, dass sie es technisch können. Ich habe nie eine überzeugende Giselle erlebt, die jünger als 30 oder 35 gewesen wäre. Ist es nützlich, diese Rollen auszuprobieren, wenn die Tänzer noch so jung sind? Ich würde sagen, das hängt vom Werk ab! Aber ganz grundsätzlich sind für mich diese frühreifen Erfahrungen nicht glaubwürdig. Die meisten dieser Rollen benötigen einige Lebenserfahrung und Reife. Das klassische Ballett bietet eine Fülle anderer Möglichkeiten für junge Tänzer, um Erfahrungen zu sammeln, sich an den Hauptrollen zu versuchen, dazu erhalten sie später Gelegenheit. Aber sie brauchen Zeit, sie müssen auch erst verdauen. Manche der Tänzer entwickeln sich auch erst sehr spät. Die physische und mentale Entwicklung ist bei jedem individuell anders. Dafür gibt es keine allgemeinen Regeln. Auch die Gefahren dieser frühen Erfahrungen. Sie können physisch und mental verletzend wirken. Schlechte Erfahrungen können sich über den Rest des ganzen Tänzerlebens negativ auswirken. Wenn ein Tänzer noch nicht wirklich bereit ist, kann das seine ganze Karriere zerstören.
MH Gibt es Tänzer, die Sie neben Nurejew besonders bewundern?
PB Ich habe immer Baryshnikov bewundert, besonders wegen seiner Offenheit, dieser ewigen Suche nach einer anderen Bedeutung des Ausdrucks. Ich würde nicht sagen, um sich zu verewigen, das ist nicht sein Anliegen, sondern um sich neuen Herausforderungen zu stellen. Nicht viele Tänzer sind dazu in der Lage. Sie hören mit dem Tanzen auf und versuchen, eine andere Berufung zu finden. Aber Baryshnikov entwickelt sich immernoch weiter.
Ich kannte Yvette Chauviré sehr gut, sie war eine von den wirklich großen Ballerinen, die Inkarnation des französischen Balletts. Dann gab es da Noëlla Pontois, mit der ich das Vergnügen hatte zu tanzen. Ich denke, dass es heutzutage beim Ballett – wie in den anderen künstlerischen Bereichen auch – viele gute Tänzer gibt, aber dieser «Mythos» des Tänzers, den gibt es nicht mehr. Diese Mythen werden oft von der Öffentlichkeit geschaffen, und sie scheinen als Phänomen verschwunden zu sein.
MH Wenn wir gerade über Mythen sprechen, warum gibt es nicht mehr diese berühmten Partnerschaften wie früher, Fonteyn und Nurejew, Maximowa und Wassiljew?
PB Es gibt kaum noch ein Interesse dafür. In einer großen Compagnie ist es nicht sehr praktisch, die Partnerschaft zwischen zwei Tänzern zu bilden. Ich glaube nicht an das systematische Bilden von Tanzpaaren. Tänzer, die sich an jemanden gewöhnt haben, kommen plötzlich zu anderen Ergebnissen, wenn sie mit einem neuen Partner tanzen. Ich habe auch das Gefühl, dass der Zauber sehr schnell verschwindet, wenn zwei Tänzer zu oft miteinander tanzen. Wenn man natürlich zwei so außerordentliche Tänzer wie Fonteyn und Nurejew betrachtet, wird das nicht der Fall sein, aber für weniger «große» Tänzer ist es einfach besser, wenn sie dann und wann den Tanzpartner wechseln. Das gibt ihnen frisches Blut.
Das ist der Grund, weshalb wir es vermeiden, feste Paare zu bilden. Es geschieht zwar trotzdem, aber wir finden, dass es lohnender ist, sie nicht in der immer gleichen Partnerschaft zu limitieren. Zwischen Partners, die sich nicht besonders gut kennen, oder die nie miteinander getanzt haben, kann sogar etwas sehr Interessantes passieren. Dazu sind nämlich eine gewisse Anstrengung und Aufgeschlossenheit erforderlich, um sich zu verstehen und einander zu helfen. Manchmal funktioniert das nicht und muss korrigiert werden, aber das ist ein Teil unserer Verantwortung.
MH Was sind Ihre Pläne für die Zukunft?
PB Ich habe gerade eine neue Giselle an der Staatsoper in Berlin herausgebracht. Sie war unsprünglich für Steffi Scherzer gedacht, die mit dem Gedanken ihres Bühnenabschieds spielte, aber leider verletzte sie sich während der Proben, und Margaret Illmann tanzte die Premiere. Es war eine gute Erfahrung, auch mit Peter Farmer, dem Bühnenbildner. Dann plane ich noch Romeo und Julia auch für die Staatsoper, weil ich dort bis 2002 jedes Jahr eine Inszenierung herausbringe. Und es gibt auch ein Projekt hier für die Pariser Oper 2003, aber das ist noch eine offene Frage.










